Er trägt die ganze Welt in seiner Hand

Unser Pfarrarchiv umfasst nicht nur unzählige Akten, Protokolle, Rechnungen, Kirchenbücher und Pläne, sondern auch einige Kuriositäten. Dazu gehört auch, in Seidenpapier eingewickelt und in einen kleinen Karton eingebettet, eine auf den ersten Blick unscheinbare, ja unansehnliche Holzkugel. Muss man so etwas denn wirklich aufheben? Antwort: Ja, denn dieser Gegenstand kann sehr viel erzählen, wenn man ihn näher betrachtet und ihn dem Fachmann zur Beurteilung vorlegt.
Die Vorgeschichte ist schnell erzählt: Als Vorbereitung der 1988 durchgeführten Beerbacher Kirchenrenovierung wurde 1984 der Dachboden gereinigt. Im Lauf der Zeit hatte sich dort Schutt angesammelt, der auf den Gewölben des Kirchenschiffes lastete. Unter alten Dachziegeln und zerbrochenen Dachlatten fand sich eine Holzkugel, die Spuren von Bemalung aufwies. Man rätselte, welche Bedeutung dieses Fundstück wohl einst gehabt haben könnte. Bei genauer Untersuchung sind kunstvoll geschnitzte Finger zu erkennen und damit wird deutlich, dass es sich um die Darstellung einer Hand handelt, die eine Kugel umfasst.
Das bekannte Restauratorenehepaar Eike und Karin Oellermann in Heroldsberg, das einige Jahre später mit der Restaurierung des Beerbacher Hochaltares betraut wurde, nahm die Kugel in Depotverwahrung, aus der sie 2010 in das Pfarrarchiv übernommen wurde, versehen mit einem Begleitschreiben, in dem Eike Oellermann aus seiner langen Berufserfahrung heraus eine Deutung des Fundstücks versucht hat. Er kam zu dem einleuchtenden Ergebnis, dass es sich bei den noch in Ansätzen erhaltenen Fingern um die linke Hand Gottvaters handelt.
Sie gehörte zu einer Gottesdarstellung wie man sie auf dem berühmten Engelsgruß in St. Lorenz in Nürnberg, aber auch auf dem Altar unserer Neunhofer Johanniskirche findet.
Gott ist der Schöpfer und Herr der Welt, doch „niemand hat Gott je gesehen“ heißt es im 1. Johannesbrief im 4. Kapitel. So kam die christliche Kunstgeschichte des Mittelalters sozusagen als Notbehelf auf die Idee, Gott ähnlich wie den höchsten weltlichen Würdenträger der damaligen Zeit darzustellen, den Kaiser, mit Krone oder Heiligenschein, mit einem kostbaren Mantel und in der linken Hand mit dem „Reichsapfel“. Er ist das Herrschaftssymbol der Macht, bekrönt von einem Kreuz. In der rechten Hand trug der Kaiser das Szepter, den Herrscherstab, doch bei der Gottesdarstellung wurde dieser oftmals weggelassen, um dafür die erhobene, segnende Hand abzubilden. Genau so ist es bei Gottvater auf der Darstellung der Taufe Jesu im Neunhofer Altar der Fall.
Mit größter Wahrscheinlichkeit gehörte also zur ursprünglichen Ausstattung der Beerbacher Kirche eine geschnitzte Darstellung Gottvaters. Doch wo könnte sich diese befunden haben? Auch dafür hält Herr Oellermann eine Lösung bereit: Sie befand sich wohl im Aufsatz des Altares über dem Schrein mit der Darstellung Mariens und der Heiligen Barbara und Katharina. Heute sieht man dort ein Kruzifix mit den Büsten von Maria und Johannes. Doch dieser Aufbau ist nicht ursprünglich, sondern stellt eine Ergänzung aus dem Jahr 1876 dar. Über die ursprüngliche Gestaltung der Altarbekrönung liegen keine gesicherten Nachrichten vor, aber der segnende Gottvater mit der Weltkugel könnte dazu gehört haben. Als man 1756 daran ging, eine Orgel in der Beerbacher Kirche zu errichten, fand diese ihre Aufstellung auf einer eigenen Empore im Chorraum hinter dem Altar. Da störte der Altaraufsatz und wurde beseitigt. Einer üblichen Praxis folgend wurde dieses Schnitzwerk nicht einfach zerstört, sondern respektvoll auf dem Dachboden der Kirche „entsorgt“, wo es dann aber doch im Laufe der Jahrhunderte zerfiel. Nur die kleine Kugel blieb erhalten und „predigt“ uns noch heute:

Er hält die ganze Welt in seiner Hand,
er hält die ganze weite Welt in seiner Hand.
Das Lied mit diesem Text ist als Nummer 039 in unserem neuen Liederheft „Kommt, atmet auf“ zu finden und geht auf ein bekanntes Spiritual zurück.

Dem Schlusssatz von Eike Oellermanns Stellungnahme kann man nur zustimmen: „Es ist schon interessant, was man aus so einem kleinen Rest einer Skulptur noch herauslesen kann“.

Ewald Glückert, Archivpfleger