Recht auf Tod?

Es war ein Paukenschlag, als das Bundesverfassungsgericht zu Beginn der Passionszeit in diesem Jahr sein Urteil zum Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe verkündete. Es hob dieses Verbot auf. Doch die Richter gingen noch weiter. Sie stellten ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben in jeder Lebensphase fest, ohne dass eine unheilbare Krankheit oder gravierende gesundheitliche Einschränkungen vorliegen müssen. Dieses Recht schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und dabei die Hilfe von Dritten in Anspruch zu nehmen.

Mich stimmt diese Entwicklung nachdenklich. Ich kann verstehen, dass schwerkranke Menschen sich ab einem gewissen Punkt den Tod wünschen. Ich kann verstehen, dass es Lebenssituationen gibt, in denen Menschen nur noch im Tod eine Lösung sehen. Auch die Bibel kennt dieses Phänomen. Als der Prophet Elia durch die Königin Isebel verfolgt und massiv bedroht wird, hält er das irgendwann nicht mehr aus. Er kann nicht mehr. Er geht in die Wüste, legt sich hin und bittet Gott, seine Seele zu sich zu nehmen. Er legt aber nicht selber Hand an sich, und auch Gott entspricht nicht seinem Wunsch. Gott lässt diesen Menschen, der an seine Grenze gekommen ist, ruhen. Er speist ihn durch einen Engel und lässt ihn zu neuen Kräften kommen. (1. Könige 19)

Ich denke, das ist der Weg, der mir als Christ gewiesen ist. Und ich weiß mich als Christ auch im Letzten vor Gott verantwortlich für mein Tun und Lassen. Kann ich als Christ wirklich allein und selbstbestimmt über mein Leben und Sterben entscheiden?

Mir ist klar, dass dieser Gedanke der Verantwortung vor Gott für ein Gericht, einen Gesetzgeber, die zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet sind, nicht maßgeblich sein kann. Aber mir fällt auf, dass bei dieser Entscheidung nur noch der individuelle Wille des Menschen zählt. Doch im Grundgesetz ist die Würde des Menschen unantastbar, nicht sein Wille. Und die Würde und der Wert eines Menschen dürfen sich nicht nach seiner Leistungsfähigkeit, seinem Nutzen für andere, seiner Gesundheit oder seinem Alter bemessen. Und wenn die Selbsttötung zu einer selbstverständlichen Therapieoption wird, „kann das alte und kranke Menschen auch auf subtile Weise unter Druck setzen, von derartigen Angeboten Gebrauch zu machen.

Je selbstverständlicher und zugänglicher Optionen der Hilfe zur Selbsttötung nämlich werden, desto größer ist die Gefahr, dass sich Menschen in einer extrem belastenden Lebenssituation innerlich oder äußerlich unter Druck gesetzt sehen, von einer derartigen Option Gebrauch zu machen und ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten“. - So äußern sich die beiden großen Kirchen in ihrer gemeinsamen Erklärung zu diesem Urteil.

Heute wird mehr und mehr das Recht auf absolute Selbstbestimmung aus der unantastbaren Würde des Menschen abgeleitet. Der autonome Mensch ist das Maß der Dinge. Ist er das wirklich? Wir leben nicht als autonome Individuen, sondern in Beziehungen unterschiedlichster Art und sind da auch verantwortlich gegenüber anderen. Und wie autonom, wie selbstbestimmt ist denn ein von Schmerzen gequälter, verzweifelter Mensch? Ist er da nicht eher ein Getriebener als einer, der in Freiheit entscheidet? Aus der seelsorgerlichen Praxis weiß ich, daß die große Mehrzahl der Suizide nicht wirklich Ergebnis freier Selbstbestimmung ist, sondern Folge einer länger sich aufbauenden Einengung der eigenen Gestaltungs- und Entfaltungsmöglichkeiten.

Es passt ganz gut, dass dieses Urteil des höchsten deutschen Gerichts am Anfang der Passionszeit erging. In diesen Wochen vor Ostern bedenken wir Christen den Weg Jesu, der ihn ins Leid und ans Kreuz führte. Er ist diesen Weg gegangen. Im Vertrauen auf Gott hat er auf sich genommen, was ihm da auferlegt wurde. Und er hat seine Anhänger aufgefordert, ihm auch da zu folgen. Doch nicht der Karfreitag war das Ziel seines Weges, sondern der Ostermorgen. Von Ostern her wird der schwere Weg ans Kreuz in ein ganz neues Licht getaucht. Und ich bin überzeugt, dass wir von daher auch unsere Wege, die ja oft genug auch Leidenswege sind, in einem neuen Licht sehen können. Wo das passiert, werden wir sie wohl dann auch im Vertrauen auf den Gott des Lebens gehen können und erfüllt von österlicher Hoffnung nicht das Recht auf Tod einklagen, sondern uns von Gott das Recht auf Leben schenken lassen.

Ihr Pfarrer