… und du wachst auf und es ist Krieg

So haben es wohl viele empfunden, als russische Truppen in der Nacht vom 23. zum 24. Februar in die Ukraine einmarschiert waren. Es herrschten Fassungslosigkeit und Entsetzen über solches Unrecht, solche Willkür und solche dreisten Lügen über angebliche Friedenstruppen, die ein von Nazis beherrschtes Land befreien müssten. Hatten wir Krieg als Mittel der Politik nicht schon als etwas Vergangenes angesehen? Hat Europa immer noch nicht die Lehren aus zwei verheerenden Weltkriegen gezogen, wo auch Grenzen zwischen Ländern willkürlich verschoben und die Souveränität von Staaten und das Selbstbestimmungsrecht von Völkern missachtet wurden? Wurde noch nicht genug Unheil und Leid über Menschen und Länder gebracht?
Mir kam ein Liedvers aus unserem Gesangbuch in den Sinn (EG 430):

Gib Frieden, Herr, gib Frieden,
die Welt nimmt schlimmen Lauf.
Recht wird durch Macht entschieden,
wer lügt, liegt obenauf.
Das Unrecht geht im Schwange,
wer stark ist, der gewinnt.
Wir rufen: Herr, wie lange?
Hilf uns, die friedlos sind.

Was hier beschrieben wird, haben wir in den letzten Wochen erlebt. Die Welt nahm schlimmen Lauf. Recht galt nicht mehr und der Lügner lag obenauf. Der Starke gewann und uns blieb nur der hilflose Ruf „Herr, wie lange?“, das Gebet und die Bitte um Frieden.
Der Friede auf Erden, das ist ein zerbrechliches Konstrukt. Er ist uns nicht einfach gegeben. Er muss mühselig ausgehandelt werden. Er muss bewahrt werden. Er ist nicht einfach da. Das müssen wir vielleicht jetzt wieder neu lernen. Und das ist so, weil wir Menschen so sind, wie wir nun mal sind. Der Krieg jetzt ist kein von Gott verhängtes Übel, sondern von Menschen gewollt und gemacht – aus welchen Gründen auch immer.

Ich verliere nicht den Glauben an Gott, der ein Gott des Friedens und nicht der Unordnung ist (1. Korinther 14,33). Aber ich habe den Glauben an menschliche Vernunft verloren, daran, dass der Mensch vernunftgemäß handelt und sich an Recht und Gesetz hält und den Frieden bewahren will zum Wohl aller.

Gib Frieden, Herr, wir bitten!
Die Erde wartet sehr.
Es wird so viel gelitten,
die Furcht wächst mehr und mehr.
Die Horizonte grollen,
der Glaube spinnt sich ein.
Hilf, wenn wir weichen wollen,
und lass uns nicht allein.

Ich hoffe, dass der Glaube sich jetzt nicht einspinnt. Ja, ich hadere mit Gott, schimpfe zuweilen mit ihm, dass so viele Gebete um Frieden nicht den Frieden in der Ukraine und in Europa bewahrt haben; dass Gott die Herzen und Sinne der Mächtigen nicht anders gelenkt hat. Aber ich weiß auch: wir leben in einer Welt, die noch auf Erlösung wartet. Und die Menschen in dieser Welt sind die Menschen nach dem Sündenfall, Menschen, die sich von Gott und seinen guten Regeln zum Schutz des Lebens emanzipieren, die das als Fortschritt feiern; die oft genug meinen, es besser zu wissen und besser zu machen als Gott. Es sind Menschen, deren Herz sich trotzig geschieden hat, von dem, was Liebe sagt, wie es in unserem Lied heißt.

Gib Frieden, Herr, gib Frieden:
Denn trotzig und verzagt
hat sich das Herz geschieden
von dem, was Liebe sagt!
Gib Mut zum Händereichen,
zur Rede, die nicht lügt,
und mach aus uns ein Zeichen
dafür, dass Friede siegt.

Ja, wir bitten Gott um Frieden, aber wir wissen, dass es zugleich auch unseren Mut zum Händereichen braucht; unsere Rede, die nicht lügt; unseren Einsatz für den Frieden. Das alles ist nötig, wenn es wieder Frieden geben soll. Wir sollten nicht der Gefahr erliegen, nun unsererseits die Logik des Krieges zu übernehmen, den Gegner zu verteufeln und alle Brücken abzubrechen. Das heißt ganz sicher nicht, dass wir das Unrecht tatenlos hinnehmen sollen. Aber es bedeutet, dass wir uns weigern zu glauben,  dass es keine Chancen mehr auf Verständigung gäbe - auch wenn diese Verständigung zur Zeit nicht möglich ist.

Es bedeutet, dass wir uns weigern zu glauben, dass es keine Hoffnung mehr gäbe auf Versöhnung und einen gerechten Frieden  -  auch wenn das jetzt so weit weg erscheint. Es bedeutet, dass wir unsere Politiker auffordern und unterstützen diesen Weg zu gehen. Es bedeutet, dass wir für die Verantwortlichen auf allen Seiten beten um Einsicht und Besonnenheit, um Mut zu Umkehr und Gerechtigkeit.

Doch zunächst müssen wir wohl mit dem Unfassbaren leben, dass wieder Krieg ist in Europa. So werden wir die Passionszeit in diesem Jahr wohl besonders als Passionszeit, also Leidenszeit erleben. Doch unser Glaube hält daran fest, dass Jesus das Leid für uns auf sich genommen hat; dass kein Leid uns von ihm trennen kann und er, wie es in unserem Lied heißt, auch unseren Streit erwählt hat, damit wir leben können. Daran halten wir fest auch angesichts der aktuellen Ereignisse und das gibt uns Hoffnung für die Zukunft.

Gib Frieden, Herr, wir bitten!
Du selbst bist, was uns fehlt.
Du hast für uns gelitten,
hast unsern Streit erwählt,
damit wir leben könnten,
in Ängsten und doch frei,
und jedem Freude gönnten,
wie feind er uns auch sei.

Ihr Pfarrer