Von Sorgenfalten zum Händefalten

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sorgenfalten trieben mir in den letzten Wochen und Monaten Nachrichten von gewalttätigen Protesten von Impfgegnern und Corona-Leugnern auf die Stirn. Der Ton ist schon seit längerem rauer geworden und oft schlichtweg inakzeptabel, wenn z.B. der Tod von Politikern gefordert wird, die sich für die Impfkampagne angesichts der Pandemie einsetzen. Auch vor Gewalt scheuen manche Impfgegner und Corona-Leugner nicht mehr zurück. Opfer dieser Gewalt werden Polizisten, die als Vertreter der Staatsmacht herhalten müssen, damit manche „Querdenker“ ihre Wut an ihnen auslassen können. Ein junger Angestellter einer Tankstelle wurde erschossen, weil er die Einhaltung der Regeln zum Schutz vor Corona einforderte. Und in diesen Tagen lese ich von einem vierjährigen Kind, das bei einer Demonstration verletzt wurde, weil die Mutter mit dem Kind versuchte eine Polizeiabsperrung zu durchbrechen. Ehrlich gesagt: Ich habe Angst vor der „Freiheit“, die auf diese Weise verteidigt oder zurückerobert werden soll. Da scheint es sich um die diktatorische Freiheit Gleichgesinnter zu handeln. Und mir macht der Fanatismus Sorge, der sich da Bahn bricht und die eigenen Ziele sogar über das Wohl des eignen Kindes stellt.
Natürlich darf jeder „querdenken“ und seine Meinung äußern und gegen andere Auffassungen argumentieren. Aber wird da wirklich noch gedacht und argumentiert, wo Fanatismus sich breit macht und Gewalt angewendet wird?
Natürlich darf es Auseinandersetzungen geben darum, was in einer bestimmten Situation richtig und angemessen ist. Aber wo der Streit darüber zu persönlicher Diffamierung und Gewalt führt, ist eine Grenze überschritten, deren Einhaltung für das Zusammenleben und den gesellschaftlichen Zusammenhalt unerlässlich ist.
Konflikte sind etwas Normales. Das gilt für die Gesellschaft genauso wie für die Kirche. Ja, auch bei uns gibt es natürlich Konflikte. Dass die Gemeinde immer ein Herz und eine Seele ist, ist eine Wunschvorstellung. Liest man aber die Bibel, stellt man sehr schnell fest: Von Anfang bis zum Schluss spielen Konflikte, Auseinandersetzungen und Streit eine große Rolle. Von Kain und Abel oder Jakob und Esau bis hin zum Streit unter den Jüngern, wer der Größte unter ihnen sei (Lukas 22,24).

Zum Zusammenleben in einer Gemeinschaft gehört es, dass es Meinungskonflikte und Interessenskonflikte gibt. Und das gilt erst recht in einer Zeit, die durch große Individualisierung gekennzeichnet ist. Je differenzierter Lebenseinstellungen und Interessen sind, desto größer wird das Konfliktpotential. So gesehen ist der Konflikt eigentlich das Normale und die spannungsfreie Harmonie die Ausnahme.
Es kommt aber eben darauf an, wie Konflikte ausgetragen werden. Konflikt heißt ja nicht, dass man gleich mit dem Messer aufeinander losgehen muss. Es braucht eine konstruktive Konfliktkultur, damit das Zusammenleben gelingt. Zu dieser Kultur gehört es, dass Konflikte nicht unter den Teppich gekehrt, sondern benannt und ausgetragen werden. Zu dieser Kultur gehört, dass man miteinander redet, zuhört und versucht, zu verstehen. Zu dieser Kultur gehört auch, dass Gefühle von Ärger und Unzufriedenheit geäußert werden dürfen. Aber hier gilt besonders: Der Ton macht die Musik und entscheidet darüber, ob es ein konstruktives Gespräch wird und ob das Gespräch weiter geht, oder ob es irgendwann vom Haar- zum Schädelspalten kommt.
Zu einer solchen Konfliktkultur gehört für uns Christen sicher auch die Tugend der Geduld und die Bereitschaft, auch die Feinde zu lieben und sie eben nicht zu verteufeln.
Wir müssen lernen zu akzeptieren, dass Menschen unterschiedlich denken, fühlen und handeln. Eine falsche Harmoniesucht führt hier nicht weiter, sondern behindert einen konstruktiven Umgang mit diesen Verschiedenheiten. Es geht nicht darum, den Streit zu vermeiden, sondern auf gute Art und Weise miteinander zu streiten, dabei aber auch immer den Konsens zu suchen, auch wenn wir ihn oft nicht finden werden. Streiten will also gelernt sein. Und vielleicht ist das ja für uns persönlich, aber auch für unsere Gesellschaft die Aufgabe, die sich jetzt stellt.

Für mich gehört zu dieser Konfliktkultur auch, dass ich die Konflikte und die beteiligten Personen ins Gebet nehme. Dass ich also von den Sorgenfalten hin zum Händefalten komme. Denn Konflikte belasten mich und ich tue mir schwer damit. Es tut dann gut, diese Last im Gebet bei Gott abzulegen und sich bewusst zu werden: Nicht ich bin es, der die Welt in Händen hält und regiert. Oft gewinne ich im Gebet auch eine neue Sicht auf die Dinge und entdecke Lösungsansätze oder mir wird klar, was mein nächster, konstruktiver Schritt sein kann.

Beim Beten gewinne ich eine heilsame Distanz zu dem, was mich umtreibt, ärgert und oft genug frustriert und ratlos zurücklässt. Und wenn ich im Gebet an die „Gegner“ denke, entdecke ich wieder den Mitmenschen, den Gott mir an die Seite gestellt hat und den er auch liebt.

Auch in diesem neuen Jahr 2022 werden wir vor der Herausforderung stehen, Konflikte auszutragen und konstruktiv zu lösen. Und es hilft, wenn wir dabei immer wieder neu von den Sorgenfalten zum Händefalten kommen.

Ihr Pfarrer